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Eine Familie und ihr Haus - ein Buch über eine besondere Verbindung

Aktualisiert: 17. Feb. 2021

Wie sehr ein Haus Zuhause, Schutzort und Lebensmittelpunkt sein kann, zeichnet ein neues Buch über ein architektonisch für seine Zeit erstaunliches Haus in Berlin-Schlachtensee nach. „Das Haus am Waldsängerpfad“, 1929 erbaut, hat - anders als der gleichnamige idyllische Titel des Buches vielleicht schließen ließe - ebenso wie seine Besitzer und Bewohner eine bewegte Geschichte, die fast 100 Jahre und zwei Drittel des 20. Jahrhunderts umspannt.

Thomas Blubacher hat für seine detaillierte Recherche das in dem Zehlendorfer Ortsteil Nikolassee-Schlachtensee besonders exponierte Haus im Bauhaus-Stil in der damaligen Betazeile Nr. 3 als Satellit gewählt, das mit den Biographien und dem unterschiedlichen Status seiner Bewohner und Nachbarn eng verbunden ist. Basis der Recherche sind Interviews mit den hochbetagten Töchtern von den früheren Besitzern Fritz und Gertrud Wisten, von denen eine noch immer in dem Haus lebt.

 

Nikolassee - ein Villenvorort Die um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert angelegt Villen-Kolonie im Südwesten Berlins hat früh ein großbürgerliches Publikum angezogen. Angebunden an Berlins Mitte durch die Schnellbahnlinie wählten Politiker, Unternehmer ebenso wie Künstler das Viertel als Wohnsitz.

 

Wie sich das Zusammenleben in der Nachbarschaft dort nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten veränderte und für einige Bewohner des Hauses am Waldsängerpfad zum Kampf ums Überleben wurde, erzählt der Autor anhand der Geschichte der Familie Wisten und ihrer Hausgäste, durch Tagebuchaufzeichnungen und Interviews der Töchter Wisten, eingebettet in die politischen Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945.



Das Haus der Familie Wisten

Bis heute ist das markante Haus Heimat für eine der Bewohnerin, die seine bewegteste Zeit als Schutzraum für Verfolgte und seine Besitzer in den Jahren 1933-1945 miterlebt hat. Eva Wisten, geboren 1930, ist die jüngste Tochter des jüdischen Schauspielers und Regisseurs Fritz Wisten (1890 - 1962) und seiner nicht-jüdischen Ehefrau Gertrud.

Fritz Wisten verlor bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten sein Engagement in Stuttgart und zog mit der Familie nach Berlin, da er eine Stelle beim Jüdischen Kulturbund bekam. Der Jüdische Kulturbund wurde unter Aufsicht der und von den Nationalsozialisten als Kulturorganisation mit verschiedenen Kunstsparten eingerichtet, zu der auch das Sprechtheater zählte. Gespielt werden durfte nur von jüdischen Künstlern für jüdisches Publikum. Das Haus am Waldsängerpfad in Berlin sollte für Fritz Wisten, der schnell eine Leitungsfunktion beim Theater des Kulturbundes innehatte, für seine Kinder, die den Nazis als „Mischlinge ersten Grades“ galten, und verfolgte Freunde, die dort Unterschlupf fanden, bis zu seinem Tod 1962 Zufluchtsort und Zuhause gleichermaßen werden.



"Entartete" Architektur

Die Architektur des Hauses, von Peter Behrens 1929 erbaut, von Marcel Breuer im Stil der neuen Sachlichkeit eingerichtet, stach optisch und ideell gegenüber den historisierenden Villen in der Nachbarschaft heraus, der doppelstöckige quadratische Hauptteil, ergänzt und verbunden durch eine Nebenwohnung im zweiten kleineren quadratischen Bauteil wurde für den Psychologen Kurt Levin gebaut, der jedoch 1933 bei einer Reise emigrierte. Von den Nazis wurde die Bauhaus-Ikone als „entartet“ angesehen. Ein großes Glück für Familie Wisten, die das Haus dank Gertrud Wisten 1935 erwerben konnte.


Kultur in schwieriger Zeit Fritz Wisten engagierte sich mit vollem Einsatz beim Jüdischen Kulturbund, der unter der direkten Aufsicht des Staatskommissars und Reichskulturwalters sowie Geschäftsführer der Reichskulturkammer Hans Hinkel stand. Für viele Künstler war die bis zur Pogromnacht 1938 geduldete Organisation bis dahin die berufliche und existenzielle Rettung. Danach wurden die verbliebenen Künstler verhaftet. So wurde Fritz Wisten ins KZ Sachsenhausen verschleppt, nur dank dem Umstand seiner Unabkömmlichkeit bei Jüdischen Kulturbund und der Intervention von Canaris kehrte er nachhause zurück. Seine nicht-jüdische Ehefrau wurde nach einer Denunziation zur Zwangsarbeit und ins Gefängnis eingezogen. Der lange verfolgte Emigrations-Plan der Familie war endgültig gescheitert. Zu den von der Familie Wisten dort Aufgenommenen und Geschützten zählte u.a. auch der Schauspieler Alfred „Freddy“ Balthoff, der nach dem Krieg Burgschauspieler und auch als Synchron-sprecher tätig war und in Billy Wilders Film „Manche mögen’s heiß“ das legendäre Schlusswort auf Deutsch sprach: „Niemand ist perfekt“. Als jüdischer Schauspieler, schwul und mit Liebhaber in der Wehrmacht überlebten er, die Wistens und weitere Freunde versteckt im Haus am Waldsängerpfad. Balthoff traf seinen Liebhaber am Schlachtensee und hatte sogar die Chuzpe, zusammen mit Wistens Tochter Susanne sich mitten im Krieg 1941 verbotenerweise in die Menge unter das Premierenpublikum im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt zu mischen.

 

Das Buch erzählt von solchen schier unglaublichen Begebenheiten und auch von glücklichen Umständen, hilfreichen Händen und einem Leben unter Bedrohung und mit äußerst krisenhaften Zeiten. Dabei lebten seine Bewohner in nächster Nachbarschaft zu hohen Nationalsozialisten wie Reinhard Heydrich, bürgerlichen Denunzianten aber auch Bürgern und sogar Nazis wie der ranghohe Stratege und Nachbar Wilhelm Canaris, die halfen. Mit fortschreitendem Kriegsgeschehen bemühte sich Fritz Wisten um Aufnah-me von als vertrauenswürdig eingeschätzten Ausgebombten in seinem Haus. So baute er sich und der Familie quasi eine lebendige Schutzhülle. In den letzten Kriegstagen lebte die Familie in verschiedenen, verschlossenen Kellerräumen, während oben die Hausgäste logierten. Bis Ende April 1945 die ersten russischen Soldaten in der Kolonie Schlachtensee erschienen (sie kamen zur rechten Zeit, denn die Nazis hatten bereits 1942 diesen Zeitpunkt festgelegt für die Deportation jüdischer Menschen, die wie Fritz Wisten in einer sogenannten "privilegierten Mischehe" lebten), blieb das Haus für alle Schutz- und Gefahrenort gleichermaßen.


Grenzgänger in Ost, Zuhause am Waldsängerpfad

Nach dem Krieg 1946 wurde Fritz Wisten von den sowjetischen Besatzern als Leiter des Theaters am Schiffbauerdamm eingesetzt. Hier kam es zu Meinungsverschiedenheiten mit Bertolt Brecht, der zurückgekehrt aus der Emigration, das Uraufführungstheater der „Dreigroschenoper“ für sein neu gegründetes Berliner Ensemble reklamierte. Wisten wurde die Leitung der Volksbühne übertragen, die aber noch bis 1954 am Schiffbauerdamm spielte, erst dann war der zerstörte Bau am Rosa-Luxemburg-Platz wiederhergestellt. Wisten blieb im kalten Krieg im Westen Berlins wohnen, war aber im Ost-Teil in Lohn und Brot und einer von mehreren Tausend offiziellen Grenzgängern, auch nach dem Mauerbau 1961. Das Haus am Waldsängerpfad, so hieß die Straße ab 1947, blieb sein Zuhause bis an sein Lebensende.


Redaktioneller Beitrag ohne Auftrag / keine bezahlte Werbung.













Lebensende.947sein94use.

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