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Selfie mit Mimi - Erinnerungen an eine vergangene Zukunft

Aktualisiert: 30. Jan. 2019

La Bohème – Komische Oper Berlin, Premiere am 27.1.2019

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist der Titel eines Aufsatzes des Philosophen Walter Benjamin, den er 50 Jahre nach der Uraufführung von Puccinis "La Bohème" 1935 veröffentlichte. Darin stellte er u.a. die Theorie auf, dass ein Kunstwerk, ein Gemälde, eine Zeichnung, im Augenblick lebendig ist und in diesem Augenblick eine für den Zuschauer erkennbare einzigartige Aura hat. Mit der Reproduzierung von Kunstwerken durch technische Mittel, wie z.B. in der Fotografie verliert das Kunstwerk die Aura.

Der Boheme-Begriff, den Puccini für seine Oper aufgriff, besitzt selbst eine einzigartige Aura. Eine Generation Selfie, wie sie der französische Schriftsteller Henri Murger zu seiner Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts inspiriert durch seine Freunde und seine eigene Jugend im legendären Pariser Künstlerviertel erfand. Seine Szenen aus dem Leben der Bohème sind Basis für das Textbuch der 1896 uraufgeführten Oper. Murger hatte so eine Art Blog seiner eigenen Jugend geschrieben. Er verbrachte seine Jugend unter den Buveurs d’eau („Wassertrinkern“), einer Gruppe von Bohémiens im Pariser Quartier Latin. Der Roman und die Oper schildern das Leiden, Feiern und Lieben von sechs jungen Menschen, die bewusst jenseits der Bürgerlichkeit leben. Komponist Giaccomo Puccini selbst hatte, während er die Oper schrieb, den „Club La Bohème“ gegründet. Als eine Erinnerung einer Gruppe von Künstlern, Malern, Schriftstellern an gemeinsame Jugendjahre. Und so wird Puccinis Oper "La Bohéme" zu einem Alltagsbild der Selfisten. 

Regisseur Barrie Kosky wählt bei seiner Interpretation 2019 an der Komischen Oper einen Kunstgriff. Er greift die Anfänge der Fotografie um 1860 als einschneidenden Wendepunkt auf. Sechs junge Menschen zeigen einen Ausschnitt ihrer Lebenswirklichkeit und halten diese auf Fotoplatten fest, vergleichbar dem heutigen Selfie-Modus. In Jordan de Souza hat Kosky einen musikalischen Mitstreiter, der real und temporeich auf lieblich-süßliche Orchesterromantik verzichtet und stattdessen mit klaren Klängen den Sängerdarstellern die Möglichkeit gibt mit den Orchestermotiven und - Kommentaren in einer Art Alltagssprache zu kommunizieren. 

Das Leben ist groß! Und es ist kalt ... am Weihnachtsabend um 1830, im Pariser Quartier Latin. Nicht für die Miete, nicht fürs Feuerholz und nicht fürs Festmahl reicht das Geld der Bohémiens Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard. Zwar sind sie mittellos, doch reich an Lebenslust und im Herzen ganz entflammt: Der Poet Rodolfo liebt Mimì, sein Freund Marcello verfällt, einmal mehr, der schönen Musetta. Die Künstler feiern, streiten, leiden und lieben durch den Winter – bis Rodolfo, aus finanzieller Not und Überforderung, die todkranke Mimì verlässt. Erst im letzten Augenblick realisieren er und die Freunde, welche Geschenke die Liebe und ihr Leben sind… doch es ist zu spät.

Dreh- und Angelpunkt von Koskys Inszenierung ist die aufkommende Fotografie. Auf der großenteils leeren Bühne ist die Kamera stets präsent.  Marcello ist ein Fotograf, der seine Modelle vor künstlichen Hintergrundpanoramen ablichtet, die Momente einfängt, die die Liebe, die Unbekümmertheit, den Alltag und schließlich das Sterben von Mimi dokumentiert. Marcello ist nicht Maler, sondern Fotograf, der die Wirklichkeit abbildet. Die Kamera hält ähnlich wie im Vorwort zu Christopher Isherwoods Roman „Goodbye to Berlin“ und dem daraus abgeleiteten Bühnenmusical "Cabaret" diese Szenen aus dem Leben der Bohème unkommentiert fest: „Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend“.

Die  Kamera übersieht nichts, sie dokumentiert die glücklichen wie die traurigen Vorkommnisse und als der Tod eintritt friert das Bild von Mimi ein.


Chor und Kinderchor meistern die schnellen Tempi aus dem Graben mit Bravour. Gestalterisch groß zeichnen die Chorsolisten im Cafe Momus (zweites Bild) ein lebendes Sittenbild von Toulouse-Lautrecs Postkarten-Paris, angerichtet auf einem riesigen Cabaret, der namensgebenden drehbaren Tellerschale mit kleinen Fächern, die die unterschiedlichen Szenen- und Musikbeiträge in einer Cabaret-Revue charakterisieren. Beeindruckend die offenen laufenden Umbauten im Momus-Bild. Die Stage-Hands verschmelzen mit der Szene, bei drehender Bühne zieht ein Panorama-Paris am Zuschauer vorbei.

Das Cafe Momus könnte aber genauso gut am Ende dieses Bilds, wenn das gesamte Ensemble an der Rampe tanzt, das Moka Efti sein. Der legendäre Nachtclub im Berlin der 20er Jahre ist uns durch die Serie Babylon Berlin wieder ins Bewusstsein gerückt. Nicht umsonst sind Bohème Sauvage Parties, wo man im Stil der 20er Jahre feiert, oder Volker Kutschers sensationell verfilmte Romane schwer im Trend.


Die Kostüme (Victoria Behr) bleiben zeitlos, Rodolfo trägt lila Samt, Colline Rolkragenpulli zur Frackjacke und zum Kunstfellmantel. 


Die damals neue Technik der Daguerreotypie, einer frühen Form der Fotografie um 1860, wird zum zentralen Gestaltungselement der Ausstattung von Rufus Didwiszus (Bühne). Ihr visueller Charakter zeichnet sich durch metallische Oberflächen und eine grau-schwarze Farbigkeit aus. Die Rückwand der ansonsten leeren Bühne besteht in Bild 1 und 4 aus verblassten Fotoplatten. Die einst so überraschend lebensnahen, heute aber stark verblassten Abbilder werden in Koskys Inszenierung zum Sinnbild für Vergänglichkeit: ein vergängliches Leben, eine vergängliche Jugend, eine vergängliche Liebe …

Ein junges Ensemble aus einem Guß verkörpert mit vibrierender Lebendigkeit Liebe und Leiden der Figuren zwischen Lebenslust und Überlebenskampf: Ensemblemitglied Nadja Mchantaf gibt nach ihren großen Erfolgen als Rusalka, Cendrillon und Tatjana ihr Rollendebüt als Mimì, an der Seite von Jonathan Tezelman als Rodolfo. Mchantaf singt die Partie der Mimi hinreißend mit leichten großartigen Pianissimi, zerbrechlich und genau pointiert mit klarem höhensicheren Sopran. Als Musetta und Marcello sind die Ensemblemitglieder Vera-Lotte Böcker und Günter Papendell zu erleben. Beide voller Spielfreude, beide mit schönen, klaren durchsetzungsstarken Stimmen. Komplettiert durch Philipp Meierhöfer (Coline) und Dániel Foki (Schaunard). 


Kosky befreit die handelnden Figuren von ihren im Laufe von Abertausenden Aufführungen weltweit seit der Uraufführung 1896 eindimensional gewordenen Rollen-Klischees. Stattdessen erlegt er ihnen auch widersprüchliche Charakterzüge auf. Marcello taumelt sehr betrunken durch die Welt, die er mit der Kamera festhält. Rodolfo findet auch angesichts von Mimis Sterben nicht zu Gesten der Empathie oder konkreter Hilfe, hilflos nur in seinem eigenen Leid. Mimi ist eine toughe selbstbewusste junge Frau, eine Asphaltblume am Montmarte, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt, im Karokleid und in Springerstiefeln stolpert sie in Rodolfos Leben.  Das Verhältnis von Jugend zum Tod ist neben der Fotografie Koskys zweites großes Thema im Stück. Wechselnden Emotionen, 100%er Liebe, Eifersucht und Hass geben sich die sechs Protagonisten mit dramatischer Grandezza, Humor und Verve hin. Wendepunkt und Schlüsselmoment im dritten Bild ist die Zerstörung der Kamera durch Musetta in ihrer Wut auf den untreuen Marcello. Schluss mit Selfies. Als schließlich mit Mimis Tod die tatsächliche Katastrophe eintritt, sind die Bohèmiens hilflos. Das Bild erstarrt, Mimi, im Tode fotografiert, für immer konserviert. Erinnerung an eine bereits vergangene Zukunft.

Barrie Kosky ließ im Vorfeld der Premiere im rbb verlauten, dass seine Intendanz 2022 definitiv zuende geht, er der Komischen Oper aber möglicherweise verbunden und in Berlin bleibe. Ein Hoffnungsschimmer für die Berliner Opernszene. Kosky zählt zu den Regisseuren, die Oper für das Heute verstehbar machen, ein Storyteller modernen Formats für Geschichten mit zeitloser Botschaft.

Nächste Vorstellungen am 8., 14. Februar; 17., 22. und 30. März; 4., 19. und 28. April 2019

www.komische-oper-berlin.de



Fotos: Iko Freese / drama-berlin.de

Quelle: Pressestelle Komische Oper Berlin

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