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Sommerfrische mit Sahnehaube - die mecklenburgische Residenzstadt Güstrow zeigt Kulturschätze

Aktualisiert: 6. Dez. 2020


2020 war die Zeit der Entdeckungen in der näheren Umgebung. Für ein paar freundliche Tage bot das mecklenburgische Residenzstädtchen Güstrow Sommerfrische mit einer gehörigen Portion künstlerischer (und kulinarischer) Sahne. Stolz trägt es den Zusatz Barlach-Stadt, denn der berühmte expressionistische Bildhauer, Autor und Zeichner Ernst Barlach (1870-1938) verbrachte den zweiten Teil seines Lebens ab 1910 in Güstrow. Überall gibt es hier Lebens- und Schaffensspuren des Künstlers.

Der imposante Güstrower Dom in der Innenstadt ist seit 1927 Heimat von Barlachs berühmter Skulptur „Der Schwebende“, einem Mahnmal für Opfer des Ersten Weltkriegs und zur Entstehungszeit heftig umstrittenem Auftragswerk.

Die Gertrudenkapelle ist Teil der auf zwei getrennte Standorte verteilte Barlach-Museen, in dem ehemaligen Kirchenbau sind zahlreiche Werke Barlachs ausgestellt. Ein weiterer Barlach-Ort ist das Stadtmuseum Güstrow, auch hier finden sich Exponate und Spuren des Künstlers.


Europas größte Sammlung historischer Theaterzettel

Das kleine weiße Museums-Gebäude neben dem ab 1558 erbauten, fast überdimensional wirkenden, Residenz-Schloss ist für weitere Überraschungen gut.

Im Stadtmuseum öffnet sich in einem Erweiterungsbau unerwartet eine Schatzkiste mit Exponaten aus der Güstrower Stadtgeschichte, die bis ins 13. Jahrhundert datiert. Ein besonderer Ort ist das Musikzimmer. Hier sind Porträts der einflussreichen Förderer von Musik und Theaterkunst in Güstrow ausgestellt. In Vitrinen findet man historische Theaterferngläser, Theaterhandtäschchen, Billets und andere Utensilien, die für den Genuss von Aufführungen im 19. Jahrhundert unabdingbar waren.

Die Wände sind jedoch mit Theaterzetteln geradezu gepflastert. Das ist einem Liebhaber und Theaterenthusiasten zu verdanken, der das Güstrower Kulturleben im 19. Jahrhundert nachhaltig gefördert hat.

Hofrat Friedrich Gottlieb Pieper (1776-1859) schrieb selbst Stücke. Eines schickte er sogar Goethe nach Weimar zur Aufführung am dortigen Hoftheater. Goethe lehnte ab. So sammelten Pieper und seine Tochter eben akribisch die nach den Vorstellungen weggeworfenen Zettel, auf denen Besetzung, Uhrzeit, Aufführungsort und Eintrittspreis (20 Groschen) sowie Werbung für die Aufführungen, teils in Superlativen, vermerkt waren.

Dank ihrer Leidenschaft befindet sich nun im Archiv des Museums mit über 5.000 Exponaten die derzeit größte Sammlung von Theaterzetteln in Europa. Ein unerwarteter Schatz der deutschen Theatergeschichte. Rund die Hälfte ist inzwischen restauratorisch in Stand gesetzt.  

Die Verkäufer dieser Theaterzettel lebten von den Einnahmen des Verkaufs an die Zuschauer. So waren die Zettel, Vorläufer der Theaterplakate, nicht nur für das kunstliebende Publikum der Stadt wichtig, sondern ernährten auch einen eigenen Berufszweig.



Immer wieder Barlach & Co. 

Doch Ernst Barlach dominiert die Kulturszene der Stadt. Bis in die jüngste Vergangenheit sogar tauchten in Güstrow immer neue Spuren und Verbindungen hin zu Barlach auf, ein echtes Pfund, mit dem die mit öffentlicher Förderung hübsch restaurierte, Stadt wuchern kann. So wie am malerische Inselsee, Güstrows Haussee im ruhigen Viertel Heidberg, in Nachbarschaft zum behutsam modernisierten historischen Hotel Kurhaus am Inselsee. www.kurhaus-guestrow.de


Nebenan stehen Einfamilienhäuser, einige aus der späten Bauhauszeit, in direkter Seeanbindung. Auch Barlachs ehemaliges Atelier- und Wohnhaus steht hier. Das Haus und ein Neubau beherbergen heute das ihm und seinem Werk gewidmete Barlach-Museum. 


Am Heidberg lebten und arbeiteten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Künstler und reiche Kunstliebhaber in bohémienhafter Nachbarschaft. Auch der renommierte Bildhauer Ernst Barlach, der zuvor in der Berliner Secession ausgestellt hatte, siedelte sich dort Anfang der 1910er Jahre an.

Porträt Ernst Barlach, Leo von König


Auftritt Bernhard A. Böhmer

Das für Barlach 1930 neu erbaute Ateliergebäude in Backsteinbauweise, mit rundem Gebäudeteil und aufgesetzter Terrasse und einer hohen aufziehbaren Fensterfront mit Klappfenstern ließ sein Freund und Assistent errichten, der wohlhabende Kunsthändler Bernhard A. Böhmer (1892-1945). Eine schillernde Figur, - in Güstrower Erinnerungen bis heute überliefert - die bürgerliche und künstlerische Züge vereinte. Mit einem Kamelhaarmantel sei er - untypisch großstädtisch für die kleine Stadt - am Heidberg herumgelaufen. Barlach nannte den Gönner, der ihn förderte, seine Werke auch unter der Hand verkaufte, aber auch heimlich vor Vernichtung bewahrte, einmal seinen „sehr guten und bösen Engel“. 


Künstlerkommune am Inselsee

Barlachs Haltung gegenüber den Nationalsozialisten erscheint ambivalent.

Ursprünglich regimetreu, galt er wegen seiner expressionistischen Gestaltungsweise bei den Nationalsozialisten schnell als entartet.

Mit Böhmer verband Barlach nicht nur die Kunst, Böhmers erste Frau Marga Böhmer (1887-1969), ebenfalls Bildhauerin, wurde 1927 Barlachs Lebensgefährtin, später dann auch seine Nachlassverwalterin. Mit Bernhard Böhmers neuer Familie lebten sie in Einvernehmen zu viert auf dem Gelände des Ateliers in einer Art bürgerlich-künstlerischen Kommune.

Im Hotel Kurhaus am Inselsee hängen Fotos, die Barlach und Marga Böhmer 1937 auf der Terrasse des Ausflugsrestaurants am See beim Kaffee zeigen.


Marga Böhmer


Böhmer, Gurlitt und die Raubkunst

Dass Bernhard Böhmer wie auch Hildebrand Gurlitt (1895-1056) zu einem der vier einflussreichsten Kunsthändler des nationalsozialistischen Regimes aufstieg, hat Barlach, der 1938 starb, nicht mehr erlebt. Doch Gurlitt, längst geschäftlich mit Böhmer verbunden, erschien sogar nach Barlachs Tod am Heidberg, um zu kondolieren.


Böhmer stieg in den 1930er Jahren in den Kunsthandel ein. Er pflegte gute Verbindungen zu Joseph Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, das den Auftrag zur Enteignung von sogenannter als „entartet“ eingestufter Kunst gab. Die guten Beziehungen führten sogar dazu, dass Böhmer von den Nazis enteignete und zum Verlauf freigegebene Kunstwerke in den frühen 1940er Jahren in Barlachs ehemaligem Atelier am Heidberg lagerte. Schließlich kaufte er 1943 rund 3.000 Kunstwerke davon selbst auf. Darunter sind Werke von Franz Marc, Oskar Schlemmer, Emil Nolde und Otto Dix. 


Böhmer ahnte, dass der Krieg bald zuende gehen könnte und bereitete den Absprung samt seiner Kunstsammlung in den Westen vor. Zu spät. Als die russische Armee Anfang  Mai 1945 vor Güstrow stand, brachte Böhmer sich und seine zweite Frau mit Gift um, wohl wissend, was ihn als einflussreichen Nazi-Kunsthändler erwarten würden. Der gemeinsame 12jährigen Sohn überlebte. Er wurde von den russischen Soldaten mit einigen von Barlachs Werken an Verwandte übergeben.

Der Großteil der Werke Barlachs, die Böhmer verwahrt bzw. hatte, sowie die riesige Sammlung von Kunstwerken, die Böhmer im Auftrag der Nazis und zu günstigen Konditionen im eigenen Auftrag zusammengetragen hatte, wurde von den russischen Soldaten zunächst auf dem Heidberg verstreut, teils beschriftet und als Verkehrsschilder genutzt oder zerstört. Die geretteten Werke befinden sich heute nach erfolgter Provenienzklärung im Museum in Rostock. Darunter sind Gemälde von Erich Heckel und Oskar Schlemmer, Plastiken von Barlach, Marcks, Lehmbruck, Papierarbeiten von Klee, Kandinsky, Dix, Pechstein, Feininger oder Schmidt-Rottluff.



Neustart

Der Initiative Marga Böhmers zu verdanken, dass einige von Barlachs Werken nach dem Krieg in der Stadt bewahrt und wieder ausgestellt wurden. Auf ihre Veranlassung hin wurde die Gertrudenkapelle 1953 als Barlach-Museum eingeweiht.


Noch 2016 wurde bei Abrissarbeiten auf einem Nachbargrundstück unter einer Holzveranda ein alter Postsack mit Fotos von Kunstwerken, Dokumenten und Briefen aus dem Besitz Bernhard Böhmers entdeckt. Vieles stark beschädigt und unlesbar, doch einige Briefe aus dem Briefwechsel von Böhmer und Hildebrand Gurlitt sind erhalten und liegen mit den anderen Fundstücken heute im Archiv des Barlach-Museums. Sie könnten weiteren Aufschluss geben über das Geschäftsgebaren der Kunsthändler, die im Auftrag der Nazis mit geraubter Kunst handelten. Digitalisiert sind sie nun Forschenden aus der ganzen Welt zugänglich.


Redaktionelle Berichterstattung / keine bezahlte Werbung


Fotos: facebook.com/qulturberlin


Foto Grabstätte Böhmer: https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Guestrow_Cemetery_4_2014_004.JPG#mw-jump-to-license



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